Archiv für Mai, 2010

Frau Schmitt ist wütend

Oder die Fertigkeit mit dem Unfertigen fertig zu werden
Ein Werkstattbericht

Der letzte Schnee eines langen Winters ist gerade getaut und der Frühling meldet sich in zaghaften Ansätzen, Mitarbeiter der Hannoverschen Verkehrsbetriebe verteilen Tulpen an Fahrgäste, als ich Frau Schmitt in ihrem Atelier besuche. Angrenzende Räume dienen Frau Schmitt, ihren Kindern und ihrem Mann als Wohnung. Die Schmitts wohnen nicht in der Hauptstraße, sie wohnen in der Querstraße. Das kann kein Zufall sein. Mann und Kinder sind im Kindergarten in der Schule bei der Arbeit, und eine sabbernde englische Bulldogge haben sie zum Glück nicht.

Frau Schmitt fegt noch eben die Küche und setzt einen Filterkaffee auf. Später reicht sie mir zwei Vollkornbutterkekse aus einer No-Logo-Packung mit Grüßen von Frau Klein, die dem Geschmack nach zu urteilen völlig ohne Zucker gebacken zu sein scheinen und die Frau Schmitt sonst an ihre Kinder verfüttert. Holzspielzeug findet sie gut; ihre Kinder mögen Plastikautos und Kunststoffpuppen. Und diese kleine Lücke in der Realität – wie es ist und wie es (nach Frau Schmitt) sein sollte – dies ist das Thema ihrer Kunst.

Irgendwie muss dem Universum beim Soll-Ist-Abgleich ein kleiner Fehler unterlaufen sein, und auf den will Frau Schmitt, wenn sie ihn schon nicht beheben kann, aufmerksam machen. Fehler findet Frau Schmitt gut, sofern man damit konstruktiv umgeht – und das tut sie ja. Deshalb baue sie absichtlich Fehler in ihre Arbeiten ein. Wer einen findet, bekommt einen Keks. Wenn die Schöpfung nicht perfekt ist, brauchen können sollen müssen es die Bilder von Frau Schmitt auch nicht.

Die Welt ist unfertig, Frau Schmitt ist unfertig und ihre Bilder sind es auch: real und abstrakt und unvollständig. Schlafende Kontinente heißt eines, wo sie nicht gemalt sondern nur angedeutet hat, wie sich eine Frau vom Balkon stürzt, um sich das Leben zu nehmen. Ich versuche sie aufzufangen, doch Frau Schmitt meint, es sei nur ein Bild. Frau Schmitt bestreitet den Suizid: die Frau mache bloß Pause. Sie will wachrütteln und gleichzeitig zum Einschlafen aufrufen: „Wo gearbeitet wird, muss auch geschlafen werden!“ Das leuchtet ein.

Eine Frau schläft auf ihrer Tastatur, ich wäre gerne der Eisbär, und alle arbeiten sich tot oder sind schon längst tot. Nur die Toten schlafen lange. Geld ist wichtig, das weiß auch die vierjährige Tochter von Frau Schmitt. Die schöne heile Welt löst sich ins Nichts auf. In echt und in den Bildern von Frau Schmitt. Überhaupt findet Frau Schmitt „nur schön“ langweilig. Das habe keinen Charakter. Der Clown dagegen stelle unsere Charakterzüge dar. Hinter der englischen Bulldogge, die so blöd kuckt, sind die Clowns: die wahren Menschen! Allesamt Artisten und Akrobaten. Schön.

Am Ende ähneln wir alle der englischen Bulldogge versteht sich – man sieht es nicht und kann es auch nicht erraten – als Aufruf gegen den Kaiserschnitt und durchgeplante Unnatürlichkeit, weil Menschen wie diese Dogge einen zu großen Kopf haben mit wenig darin. So bereitet sich die Rationalität ihr Ende selbst. Abstürzende Menschen, wohin man blickt. Absichtlich verdünnt sie die Farbe und lässt sie verlaufen, denn die Farbe will ja auch leben.

„Wenn man morgens aufsteht und abends ins Bett geht, sind viele Fehler passiert“, sagt Frau Schmitt. So macht sie das Unsichtbare sichtbar. Denn eines ist ihr klar: nicht gut ist zu vieles von allem. Und weil wir von allem zu viel haben, sind ihre Gemälde und Zeichnungen im Zorn gemalt. Wut über Dinge, die nun wirklich so nicht sein müssten, geben Frau Schmitt immer wieder Anlass, auf die Unzulänglichkeiten dieser Welt aufmerksam zu machen. Schließlich geht es um so etwas wie die innere Sicherheit. Nicht auszudenken, wenn die Welt perfekt wäre: würde Frau Schmitt dann keine Kunst machen?

Eigentlich (und ich meine ‚eigentlich’) malt Frau Schmitt keine Bilder: sie malt den Überfluss aus der Welt. Mit ihrer fertigen Unfertigkeit fertigt sie Anfertigungen, um mit der Unfertigkeit fertig zu werden. Dabei beansprucht sie globale Gültigkeit. Ich habe eher Angst, dass das Kind auf dem Fiedlerplatz von Außerirdischen mit einem UFO entführt wird. Deshalb auch dies gleißende Licht. Wenn wir nicht aufpassen, verschwinden wir alle. Davor will Frau Schmitt warnen.

Die Kinder pinkeln in den Hof heißt eine ganze Serie von Arbeiten, weil ein Nachbar meinte, die Kinder von Frau Schmitt würden sich wie Kinder benehmen. Und das muss sich Frau Schmitt nun wirklich nicht gefallen lassen. Also verleiht sie ihrer Wut Ausdruck und malt und malt: fette Sumo-Ringer, Gewehre auf Kinderköpfe, hässliche Frauen, fehlende Schweinshaxen, kämpfende Männer und Rothirsche. Das ist die Welt von Frau Schmitt.

Natürlich war es Sigmund Freud, der diesem grundsätzlichen Lebensgefühl in einer seiner späten Schriften Ausdruck verlieh: das Unbehagen in der Kultur (1930). So möchte auch Frau Schmitt glücklich werden und so bleiben, obwohl diese Absicht, dass der Mensch „glücklich“ sei, im gesamten Plan der „Schöpfung“ nicht enthalten ist, sagt Freud. Und das sei eben der Fehler, sagt Frau Schmitt.

Nun hat Freud im Anschluss an diese Schrift interessanterweise noch kurz untersucht, warum es wohl das mongolische Verbot gibt, auf heiße Asche zu pissen, aus der man noch Feuer gewinnen kann. Die Vorbedingung der Bemächtigung des Feuers sei der Verzicht auf die homosexuellbetonte Lust gewesen, das Feuer durch Harnstrahl zu löschen, sagt er allen Ernstes. Das Wasser des Harnstrahls ist die Vernichtung des Feuers, das so mühsam den griechischen Göttern entwendet wurde.

Wenn wir das jetzt zusammen bringen, wird die Sache rund: nicht nur der arme Mann, auf dessen Schreibmaschine scheinbar das „d“ klemmt, leidet unter seiner – wie Judith Butler sagt – Zwangsheterosexualität, nein, er sieht sich auch noch durch den Akt des in-den-Hof-Pissens durch unschuldige Kinder seiner Göttlichkeit beraubt! Die Gewinnung des Feuers (so heißt die Schrift von Freud, 1931) ist in Gefahr, was nichts anderes bedeuten kann, als dass die Kinder von Frau Schmitt symbolisieren, dass das Überleben der Menschheit stark gefährdet ist. Der Mensch löscht sein eigenes Feuer durch sein eigenes Wasser. Siehste, Frau Schmitt, schon wieder Selbstmord.

Wenn das Feuer, die Wärme, die Flamme an sexuelle Erregtheit und einen tätigen Phallus mahnen, wie Freud selbst schreibt, dann ist auch klar, warum dieser Nachbar gegen das Grillen im Hof ist: an diesem Urakt der Menschwerdung hat er nur als Beobachter teil und wird nicht satt. „Die Kinder pissen in den Grill“ müsste die Serie mit Rücksicht auf das Unbewusste in Wirklichkeit heißen.

Genug geredet. Frau Schmitt muss auch los, die Kinder abholen. Nach Kaffee, Keks und Zigarette. Mit dem Auto nimmt sie mich noch ein Stück mit. Schwimmen wollen sie gehen. Im Stadionbad. Aber nicht vom Beckenrand pinkeln! Nur vom Dreimeterbrett.

Andreas Becke (2010)


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Kunst vs. Finanzkrise

In Anbetracht der sich verdüsternden Konjunkturaussichten hat einer Umfrage zur Folge eine Minderheit von nur etwa 33% der deutschen Bevölkerung den Blick mit Hoffnung in die Zukunft gerichtet.

Im Grunde aber ist die Erkenntnis nicht neu, dass zum Wesen der Marktwirtschaft ein zyklisches Auf und Ab der Konjunktur gehört. Obwohl die derzeitige wirtschaftliche Realität Kenner nicht wirklich überrascht, scheint der augenblickliche Konjunktureinbruch in seiner Schwere eine noch nie zuvor gekannte Dimension im Vergleich zu früheren Krisen zu haben.

„Nicht die Dinge an sich beunruhigen den Menschen, sondern seine Sicht der Dinge!“, so ein Ausspruch von Epiktet. Tatsächlich liegt es in unserem Ermessen, wie wir ein Phänomen, wie diese so genannte Wirtschaftskrise bewerten, und ob es uns gelingt, den Blick schon darüber hinaus, auf das Morgen, auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten im Allgemeinen oder aber auch auf völlig andere Dinge zu richten. Folgen wir diesem Gedanken, wären die Ereignisse weniger lähmend, als es uns die sensationslüsternen Medien suggerieren wollen.

Angesichts der Kurzlebigkeit von Wirtschaftsnachrichten, Konsumtrends und sonstiger Moden wirken Kunstwerke mit ihren oft zeitlosen und philosophischen Aussagen und Themen wie ein Fels in der Brandung in stürmischer See!

Doch mehr noch: Kunst hilft, Bedrohungen, Katastrophen und Krisen zu relativieren und mit Problemen besser umzugehen, um sie schließlich zu überwinden. Sie veranlasst uns – manchmal auf sehr rüde Weise – den Blick auf die elementaren Dinge des Lebens zu wenden, so etwa Existenz, Glück, Leid, Natur, Mythologie, Schönheit und Wahrheit!

Die Beschäftigung mit den Themen der Kunst bietet uns die Möglichkeit, innezuhalten, Abstand zu gewinnen, nachzudenken und den Kern der Dinge zu erfassen. So kann die äußere Bredouille nicht Besitz von unserer Persönlichkeit ergreifen und zu einer persönlichen Krise reifen.

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